Google, Jeff Jarvis und einige Hightech-Märchen

Jeff Jarvis-Interview im Internet Magazin
Jeff Jarvis-Interview im Internet Magazin

„Nichts ist so peinlich wie die Zukunft von gestern“, schreibt Hilmar Schmundt in seinem Buch „Hightechmärchen“ das wonnige Gedränge auf dem Basar der Zukunft. Fällt einem da nicht sofort der intelligente Kühlschrank ein, der seine Milch selbst bestellen kann – wenn er auch das Austrinken immer noch dem Benutzer überlässt? Oder die täglichen Pendlerströme, die sich durch Telearbeit in Luft auflösen? Jede kleine Startup-Bude und jeder Social Web-Berater beteiligt sich an den inflationären Erzählungen mit einem Slang des technisch Erhabenen.

Häufig bleibt nur semantischer Hightech-Trash mit geringer Halbwertzeit übrig. Ob man nun vor dem Jahrtausendfehler mit Netzwerk-Crash warnt, ein elektronisches Pearl Harbor droht oder das Gelingen der Energiewende mit smarten Glühbirnen in Verbindung gebracht wird – die positiven und negativen Vorhersagen haben die Güte von Glücks- oder Pechkeksen.

So versprechen die Hersteller der vernetzten LED-Lampe Lifx gar eine Revolution bei der Reduktion des Stromverbrauchs und stempeln die Glühbirne als archaische Technologie ab. So steht es jedenfalls in der Dezemberausgabe des Internet-Magazins. In der Geschichte über das Kickstarter-Projekt kann man nur erahnen, wie die Ökobilanz der smarten und vernetzten Beleuchtung ausfällt. Etwa die Hitzeentwicklung des Chips mit einer Leistung, die über dem ersten Mac von Apple liegt und deshalb einen Kühlkörper benötigt.

Und dann gibt es ja noch den so genannten Rebound-Effekt: Vor rund hundert Jahren wurde auch die Glühbirne mit Wolframfäden als Wunder der Effizienz gefeiert. Sie verbrauchten nur ein Viertel so viel Strom für die gleiche Leuchtkraft wie die alten Birnen mit Kohlenstoff-Fäden. Zwischen 1920 und 2000 stieg die Effizienz der Straßenlaternen um das Zwanzigfache – von 10 auf 200 Lumen pro Watt. Die Beleuchtungsdichte (Lumen pro Straßenkilometer) nahm aber um mehr als das Vierhundertfache zu. Pro Kilometer Straße wird heute zwanzigmal mehr Strom verbraucht.

Spielt man nun mit der vernetzten Glühbirne über das Smartphone jeden Tag ein wenig Disco in Erinnerung an Ilja Richter, dürfte es mit den Verheißungen der Lifx-Gründer wohl nichts werden. Das stellt nicht die Innovation der Entwickler in Frage, sondern eher die Vollmundigkeit der Unternehmer. Schlechte Karten, um in der Stiftung Märchentest zu bestehen.

Sehr viel nüchterner blickt Medienprofessor Jeff Jarvis im Interview mit dem Internet-Magazin auf die Empfehlungen zurück, die er 2009 in seinem Bestseller „What would Google do?“ zu Papier gebracht hat. Seine Vorschläge, was Unternehmen vom Suchmaschinen-Konzern lernen könnten, sind im Kern richtig, aber bislang nur in Ansätzen mit Leben gefüllt worden. Er bringt, wie viele andere Netzexperten, die Fluggesellschaft KLM ins Spiel. Sie habe das Potenzial, sich zu einer Social Airline zu wandeln. Dort könne man seinen Sitznachbarn via Facebook beeinflussen. Das sei zwar nicht die beste Methode, aber ein Versuch: Größere Veränderungen in der Wirtschaft würden eben nicht freiwillig stattfinden.

Warum sich Firmen nicht zu offenen Plattformen entwickeln und sich stärker mit Menschen über das Internet vernetzen, liege wohl an der Angst der Führungskräfte. Stattdessen gebärden sich Unternehmen als Content-Produzenten und pflastern das Social Web mit Werbebotschaften zu. Einweg-Berieselung als alter Wein in neuen Schläuchen. Man meidet im Netz die direkte Berührung mit dem Kunden – Entscheider fürchten den Shitstorm.

„Dein schlimmster Kunde ist dein bester Freund“, erwidert Jarvis gegenüber dem Internet-Magazin. „Wenn jemand eine Sache so wichtig ist, dass er sich beschwert, well er dem Unternehmen eigentlich sagen: ‚Ich will Dich lieben. Und ich würde Dich lieben, wenn Du nur das hier tätest.‘ Unternehmen, die uns für Gefangene halten – wie Telefon- oder Kabelkonzerne -, können nicht gewinnen.“

Das mit der Liebe darf man nicht so wörtlich nehmen – Jarvis neigt zu Übertreibungen. Aber sein Rat, sich in der Netzöffentlichkeit von Konsumenten helfen zu lassen, ist nachvollziehbar. Alle Mitarbeiter eines Unternehmens haben das Potenzial zum Verkäufer.

Warum sollten sie also nicht online mit der Öffentlichkeit reden, fragt sich Jarvis.

Warum werden Kundenanfragen immer noch in die Anonymität einer Hotline gedrängt? Warum macht man es nicht wie die Elektronikmarkt-Kette Bestbuy, wo alle 3.000 Mitarbeiter Zugang zum Twitter-Account @twelpforce haben? Jeder Kunde könne dort Fragen stellen, und mehr oder weniger in Sekunden gibt es eine Antwort, bemerkt Jarvis. Es geht um Konversation, nicht um Marketingbotschaften und Hotline-Blödigkeit.

Es geht um das Wissenspotenzial einer gesamten Unternehmensorganisation, um bessere Dienste und Produkte auf die Beine zu stellen. Es geht um Netzwerkeffekte, um teure Wiederholungsschleifen beim Kundenservice zu vermeiden. Es geht um die Erfahrungen von Kunden, die Produkte oder Dienste einer Firma teilweise besser kennen als die Belegschaft. Eine Frage hat Jarvis nicht beantwortet. Warum hält sich Google selbst nicht an die Empfehlungen, die der Medienprofessor in seinem Opus festgehalten hat?Google hatte frühzeitig den Instinkt, Plattformen und Netzwerke zu schaffen, statt Inhalte zu kaufen oder zu produzieren – das gilt aber nur für die Technologie. Die Unternehmenskultur nach außen sieht anders aus, wie man am Umgang mit der Youtube-Szene erkennen kann. Auch die rüde AGB-Politik von Google spricht eine andere Sprache.

Die Veränderung des Internet-Magazins zu einer gewichtigen Stimme der digitalen Wirtschaft ist übrigens gelungen – Hut ab vor dem Editor-at-large. Gute Arbeit, Thomas Knüwer.

Titelgestaltung mit Zuckerberg - da hilft nicht mal Photoshop
Titelgestaltung mit Zuckerberg – da hilft nicht mal Photoshop

Bis auf die Titelgestaltung 😉 Aber da würde mich Eure Meinung interessieren.

Weitere Prognosen:

44 Thesen zur Zukunft der Buchbranche.

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