Wenn autoritäre und egozentrische Organisationsprinzipien auf die anarchischen und unlogischen Strukturen des Internets prallen, erfahren die Steuermänner und Steuerfrauen der Wirtschaft und Politik sehr schnell, dass die alten Kontrollmechanismen nicht mehr funktionieren. Ob sie aus diesen Erfahrungen lernen oder die beleidigte Leberwurst spielen, wäre eine interessante Frage für empirische Untersuchungen.
Ich befürchte, dass die Lernkurve ziemlich flach verläuft. Allein an der Sprache der Kommunikatoren in Unternehmen kann man das ablesen und die hat nach Auffassung meines philosophischen Freundes Harald Korten gewiss anästhetische Züge und Betäubungsvalenzen. Beispiele gefällig? Vom Neuromarketing über die Schlüsselstrategien der Innovation Economy, viralem Szene-Marketing, Öko-Fashion, Consumer Trends, Beauty Boom, Down-Aging, Wohlfühlmärkten, den Health-Hedonists, Generation 50+ bis hin zum Selfness-Mann und seiner „authentischen Maskulinität“ sowie dem Female Financing reicht das Spektrum.
Häufig garniert mit geschwätzigen 4.0-Ergüssen. Es dominieren Begriffs-Designer, die jeden Sachverhalt, bei denen Verdeutlichung wünschenswert wäre, in semantischen Nebelkerzen zum Verschwinden bringen oder Trivialitäten zu babelschen Sprechblasen aufpumpen. Sprachliche Pointen oder stilistische Überraschungen sind in den gut aufgestellten und weltweit führenden Maschinenräumen der PR nicht zu finden. Da regieren Powerpoint-Bulletpoints und Teleprompter-Statements.
Harald Schirmer von Continental verweist auf die Furcht eines Wirtschaftskapitäns, in einem Corporate Blog sichtbar zu werden. Das führe unter Umständen zu einer Flut von unangenehmen Kommentaren, die man nicht mehr steuern könnte. Schreiben Top-Manager dann irgendetwas ins Netz, passiert das genaue Gegenteil. Niemand interessiert sich für das über drei oder vier Kontrollstufen autorisierte Technokraten-Kauderwelsch. Fehlanzeige bei Blog-Kommentaren, Fehlanzeige bei Tweets oder Teilungen auf Facebook. In Schönwetter-Zeiten ist das zu verkraften. Nicht jedoch, wenn sich kleinere oder größere Shitstorms ausbreiten, die sich nicht so schnell verflüchtigen, wie einige PR-Experten glauben.
Nach Erkenntnissen von Professor Peter Gentsch von der Business Intelligence Group gibt es eine eindeutige Korrelation zwischen Meinungen und dem Verkaufserfolg von Produkten. Und hier spielt auch das „digitale Gedächtnis“ eine große Rolle. Die Markenwahrnehmung und die Bereitschaft zur Weiterempfehlung kann dauerhaft durch negative Kommunikation geschädigt werden. Methodisch sind die wirtschaftlichen Folgen nur schwer nachzuweisen. Aber ein schlechtes Markenimage macht sich irgendwann in den Bilanzen bemerkbar. Forschungsarbeiten von Jeremiah Owyang zur Collaborative Economy belegen, dass Firmen mit einer offenen Kommunikationskultur zu den Gewinnern zählen werden. Wer ohne Vermittlungsinstanzen mit der (Netz-)Öffentlichkeit sprechen will, braucht einen anderen Kommunikationshabitus.
Wer weiterhin Botschaften über tindereskes Reichweitenmarketing (Wortkreation von Falk Hedemann) rausballert, sich Kunden gegenüber rambohaft Szene setzt, kritische Diskussionen über unethisches Verhalten ins Hinterzimmer verbannen will oder weiterhin Service-Probleme mit Hotline-Idiotie lösen möchte, sollte über Content Factory-Gründungen noch nicht einmal nachdenken.
In Erinnerung an Harald Korten:
Mit Harald verbrachte ich unzählige Abende und Nächte bei Rotwein sowie gutem Essen. Er war nicht nur ein begnadeter Rhetor, sondern auch ein exzellenter Koch – geschult durch Reisen in die Gourmet-Tempel in Baiersbronn. Er war mein Nachbar, der mich in einigen Nächten mit den bombastischen Klängen von Richard Wagner aus dem Bett katapultierte. Er wählte zwar Kopfhörer, um sich um drei Uhr noch den Walkürenritt ins Gehör zu hämmern, vergass dabei aber das kleine Knöpfchen zur Deaktivierung der Lautsprecher zu drücken. Das hatte den Vorteil, dass Harald das bedrängende Klopfen und Klingeln der Nachbarschaft schlichtweg überhörte. Als kleine Rache wählte ich dann am nächsten Morgen eine mächtige Variante von „Land of Hope and Glory“ mit einem epochalen Finale (Coronation Ode, Op. 44: VI., mit der Sopranistin Anne Collins und dem Royal Scottish National Orchestra, dirigiert von Sir Alexander Gibson), die die Wände meines geschätzten Philosophen-Freundes zum Erzittern brachten. Legendär waren die abendlichen Rundgänge mit Harald, seinem Mentor und Schelling-Forscher Hans Michael Baumgartner und weiteren Philosophie-Professoren nach inspirierenden Kolloquien, die im Sovjetlokal GUM endeten. Wer mit Philosophen unterwegs ist, muss trinkfest sein.
Mit dem Text von Harald über die geistige Leere der Trendforschung wollte ich ein neues Kolumnen-Format unter dem Titel „Der Wirtschaftsphilosoph“ begründen. Wir waren doch Brüder im Geiste und seine spitze Feder hätte sich wohltuend von den technokratischen Hohlköpfen in Beratung, Wirtschaftswissenschaft und Management abgehoben. Dazu ist es leider nicht gekommen. Wir verloren uns aus den Augen. Vor zwei Jahren ist Harald gestorben. Seine philosophischen, musikalischen und kulinarischen Anregungen werde ich in guter Erinnerung behalten.
Hat dies auf Netzstrategien für die Wirtschaft rebloggt.