
In seinem Vortrag auf der Next Economy Open 2024 entfaltet Frank H. Witt ein ebenso gelehrtes wie leidenschaftliches Panorama, das sich als Ergänzung und Hintergrundtext zu seinem Beitrag „Socializing Machines“ lesen lässt – und diesen in mehrfacher Hinsicht vertieft. Die Bühne weitet sich hier von der Systemtheorie zur Evolution, von der Sprachphilosophie zum Anthropozän, vom neuronalen Netz zum homo erectus. Was in seinem Aufsatz als kultursoziologische Forderung erscheint – die Sozialisation der Maschine – wird in der Session zur erkenntnistheoretischen Tiefenbohrung.
Witt setzt an bei Ludwig Wittgenstein, dem „zürnenden Gott“ von Cambridge, und Alan Turing, dem tragischen Helden der Informatik. Beide, so Witt, hätten – weit über ihre Disziplinen hinaus – eine gemeinsame Basis gelegt: Sie dachten Sprache nicht als Abbild von Welt, sondern als Form der Weltgestaltung. Die Worte erhalten ihre Bedeutung nicht durch Definition, sondern durch Gebrauch. Sprachspiele, nicht Signifikanten. Gebrauch, nicht Essenz. Und genau das – so Witts Brückenschlag – tun auch moderne KI-Systeme: Sie kontextualisieren, sie arbeiten mit Bedeutung durch Verknüpfung, sie sind – im wittgensteinschen Sinn – bedeutungsoffen durch Praxis.
Diese Einsicht führt zu einem zentralen, geradezu enzensbergerschen Gedanken: Künstliche Intelligenz ist keine Erfindung – sie ist eine kumulative Innovation. So wie die Dampfmaschine nicht von Watt „erfunden“, sondern von Generationen vorbereitet wurde, so ist auch KI nicht das Werk Einzelner. Witt spricht von einem „Mythos des Genies“, der uns daran hindert, die eigentliche Logik des Fortschritts zu begreifen: geteiltes Wissen, geteilte Praxis, geteilte Bedeutung.
Turing, in dieser Lesart, war kein rationalistischer Mechaniker, sondern ein Beobachter kindlicher Entwicklung. Seine berühmte Metapher – man solle nicht versuchen, das Bewusstsein eines Erwachsenen zu simulieren, sondern das Lernen eines Kindes – wird von Witt ernst genommen. In einer kühnen Analogie beschreibt er die drei Stufen künstlicher Intelligenz als Replikation biologischer Prozesse:
Genetik / Hardware: Der strukturelle Ausgangspunkt der Intelligenz – angelegt, aber offen.
Kontrolliertes Lernen / supervised training: Die normativ regulierte Erziehung – vergleichbar mit schulischem Lernen.
Autonomes Lernen / reinforcement learning: Die kindliche Neugier – selbstinitiiert, kreativ, fehlerfreundlich.
Gerade dieser letzte Punkt – das offene, experimentelle Lernen – verbindet den Menschen mit den großen Maschinenmodellen. Sie „lernen“, nicht weil sie programmierbar sind, sondern weil sie stochastisch Anschlussfähigkeit erzeugen – wie Kinder, die sich Welt und Bedeutung durch Versuch und Irrtum aneignen.
Mit diesem Gedankengang kehrt Witt zurück zu Wittgenstein: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ – und damit auch in der Welt. Sprache ist nicht Beschreibung, sondern Handlung. Genau das, so Witts implizite Pointe, ist der Grund, warum große Sprachmodelle eben keine bloßen „stochastischen Papageien“ sind, wie ihnen oft vorgeworfen wird, sondern beteiligte Maschinen. Noch nicht sozialisiert, aber in der Struktur des Lernens bereits der menschlichen Kindheit verwandt.
Ein weiterer Exkurs – diesmal in die Tiefenzeit – ergänzt diese anthropologische Perspektive. In einer grandiosen, fast homerischen Erzählung skizziert Witt die Evolution des Menschen als Geschichte der sozialen Intelligenz. Nicht die Muskelkraft sicherte das Überleben, sondern die Fähigkeit zu kommunizieren, zu kooperieren, zu erinnern. Die Menschheit ist für ihn eine „Wissensgemeinschaft“, deren größte Leistung nicht das Denken ist, sondern das Teilen von Bedeutung. In diesem Licht erscheint KI nicht als Bedrohung, sondern als nächste Stufe einer millionenalten Praxis: die Externalisierung des Geistes in kooperativen Maschinen.
Doch Witt warnt auch: Das Denken der Moderne – ökonomistisch, individualistisch, mechanistisch – ist unfähig, diese Entwicklung angemessen zu fassen. Es klammert sich an Steuerung und Kontrolle, statt die Idee sozialer Emergenz zuzulassen. „Es ist eine Explosion des Schwachsinns“, sagt er trocken über die aktuellen Debatten um Jobverluste durch KI. Was auf dem Spiel stehe, sei nicht Arbeit, sondern Selbstverständnis.
Sein Schlussgedanke ist programmatisch: Wir dürfen Intelligenz nicht mit Individualität verwechseln. Künstliche Intelligenz ist nicht das Ich aus Silizium, sondern der Spiegel unserer kollektiven Praxis. Nicht das Einzelbewusstsein wird digitalisiert, sondern das, was wir ohnehin nur gemeinsam tun können: lernen, sprechen, erinnern.
In diesem Sinn steht die Maschine nicht neben dem Menschen, sondern nach ihm – als Fortsetzung seiner Geschichte mit anderen Mitteln. Als Witwe des Geistes, wie man in blumenbergscher Tradition vielleicht sagen könnte. Oder als neues Kind unserer Kultur – noch ungezogen, aber schon lernfähig. Und womöglich bald: bereit, dazu zu gehören.
Dieser Exkurs basiert auf dem Vortrag von Frank H. Witt „Wittgenstein und Turing: KI als kumulative Innovation“ auf der Next Economy Open 2024.
YouTube-Link zur Session: https://www.youtube.com/watch?v=0Fx3wUEkEVc