Das ganze All ist Grauen: Franz Rottensteiner über H. P. Lovecraft

Für die einen ist er der wichtigste amerikanische Vertreter der unheimlichen Literatur seit Edgar Allan Poe, ein großartiger Innovator in dieser speziellen Art des Schreibens; für andere ein stilloser Schreiberling, der seine Prosa mit Adjektiven, die das Grauenhafte ausdrücken sollen, überfrachtete und sich so eher dem Lächerlichen als dem Erhabenen näherte (Edmund Wilson). Man beschreibt Lovecraft am treffendsten in Begriffen solch unvereinbarer Gegensätze, und die neueste Studie des Finnen Timo Airaksinen über Lovecrafts Philosophie (1999) ist ein weiterer Beleg für diese innere Widersprüchlichkeit: sie verdammt Lovecraft in einem Halbsatz als dilettierenden Amateur des Schreibens und der Philosophie und preist ihn im nächsten als Autor von Genius. Man hat ihn seine „eigene phantastischste Schöpfung“ (Vincent Starrett) genannt, faszinierender und abscheulicher als seine Literatur, ein Monstrum, einen Einsiedler, einen menschenscheuen Versager, der sich nur in seinen voluminösen Briefen an seine Freunde auslebte, von denen er nach Schätzungen seiner Biographen an die hunderttausend geschrieben haben soll, was übertrieben erscheint.

Eklatanter Misserfolg zu Lebzeiten

Tatsache ist, dass der Umfang von Lovecrafts Briefen den seiner erzählenden Prosa bei weitem übersteigt, und dass er selbst wenig von seinen eigenen Erzählungen hielt, sie nur widerwillig in eine Form brachte, in der man sie Verlagen anbieten konnte, sich durch Absagen entmutigen ließ, und daß manche Erzählungen von Freunden hinter seinem Rücken plaziert wurden. Zu einer Buchveröffentlichung brachte er es zu Lebzeiten, sieht man von einer Amateurpublikation ab, nie, und als seine Freunde August Derleth und Donald Wandrei nach seinem Tod einen Verlag für eine Sammlung seiner besten Erzählungen gewinnen wollten, waren sie schließlich gezwungen, einen eigenen zu gründen: Arkham House.

Dieser eklatante Misserfolg zu Lebzeiten steht in krassem Gegensatz zu dem posthumen Welterfolg seiner Bücher. Den Großteil an Einnahmen aus schriftstellerischer Arbeit erzielte Lovecraft durch die redaktionelle Bearbeitung der Geschichten hoffnungsloser Graphomanen. In seinen Briefen bewies Lovecraft eine beträchtliche, wenn auch autodidaktisch-erratische Bildung, er verschlang Unmengen von Büchern, war in der Literatur nicht minder bewandert wie in den Naturwissenschaften, interessierte sich besonders für Chemie und Astronomie und gab in seiner Jugend schon diesen Gegenständen gewidmete Amateurzeitschriften heraus.

Seinen Vater, der an Syphilis gestorben war, kannte er kaum, von der Mutter, die ihn von der Umwelt abschirmte, wurde er überbehütet. In seinem reifen Leben wohnte er zumeist mit zwei betagten Tanten zusammen und lebte vom Verzehr des ererbten großväterlichen Vermögens, das trotz bescheidenster Lebensführung stetig zur Neige ging. Lovecrafts späteres Leben verlief aber durchaus nicht so weltabgeschlossen, wie es häufig hingestellt wird. Er hatte einen enormen Kreis von Brieffreunden, um ihn scharte sich eine Runde jüngerer Autoren, er traf viele von ihnen auch persönlich und unternahm ausgedehnte Reisen in Neu-England und nach Quebec. Er war sogar verheiratet, auch wenn die Ehe aufgrund seiner nächtlichen Lebensweise (er schlief tagsüber und arbeitete bei Nacht oder streifte herum) und seiner Unfähigkeit, für die Familie zu sorgen, schließlich scheiterte.

Rabiater Antisemit

In seinen Briefen gebärdete sich Lovecraft als rabiater Antisemit und sprach von sich als einen nordischen Barbaren, der den Schädel seiner Feinde als Trinkbecher benutzt: aber seine Frau war Jüdin, und es gibt Anzeichen, daß seine Ansichten in späteren Jahren moderater wurde.

Er haßte alles Fremde, wütete über das Eindringen südeuropäischer und mongolischer Menschen in das geliebte Providence und posierte als englischer Gentlemen des 18. Jahrhunderts. Der Schmelztiegel New York war für ihn der Inbegriff verderblicher Rassenmischung. Die menschliche Gattung ist stets von Kräften von außen bedroht, kosmischen Ungeheuern wie Cthulhu, die er in mythischen Begriffen, aber abseits von jeder überlieferten Mythologie beschreibt und die weniger übernatürliche Wesen, schon gar nicht „Götter“ sind (obwohl er ihnen Bezeichnungen wie Elder Gods beilegte), sondern eher Chiffren für unbekannte und bedrohliche Naturkräfte. Ich-Verlust war seine Urangst, und der Feind von draußen ist häufig schon ins eigene Erbgut vorgedrungen.

Als bestimmend für die unheimliche Literatur sah Lovecraft eine bestimmte Atmosphäre atemloser und unerklärlicher Furcht vor äußeren, unbekannten Mächten an, in seiner ‚Literatur der Angst’ schrieb er: „Der einzige Prüfstein für das wahrhaft Unheimlich-Übernatürliche ist ganz einfach die Frage, ob im Leser ein tiefes Gefühl der Furcht hervorgerufen wird, ein Gefühl, mit unbekannten Sphären und Mächten in Berührung zu kommen, eine aufmerksame Haltung furchtsamen Lauschens, als erwarte man das Schlagen schwarzer Flügel zu hören oder die Kratzgeräusche, die außerweltliche Gestalten und Wesen am äußersten Rand des bekannten Universums machen.“ Wie er das tat, ist z.T. von persönlichen Vorlieben und Abneigungen bestimmt, die komisch wirken. Fischgeruch und Kälte sind für andere Menschen kaum der Inbegriff des Grauenhaften. Trotz handgreiflicher Schwächen – seine Gestalten sind kaum Individuen, sondern Repräsentanten der menschlichen Rasse, die Geschichten haben kaum je eine richtige Klimax – haben sie eminente Vorzüge, und Lovecraft ist unzweifelhaft einer der größten Individualitäten in der Literatur des Unheimlichen.

Verfall und Dekadenz

Er ist einmal ein Lokalschriftsteller von beträchtlicher Kraft. Die kosmischen Kräfte von draußen brechen meist in der liebevoll geschilderten Gegend um eine der fiktiven Städte Arkham oder Innsmouth in Providence über die Welt herein. Zum anderen ist er darin unverkennbar, und Fritz Leiber hat ihn dafür zu recht einen „kosmischen Kopernikus“ genannt, daß er die tradierten Geschöpfe der Literatur des Grauens, die Vampire, Werwölfe, Gespenster usw. durch bedrohliche kosmische Kräfte ersetzt hat, die seinen in der Regel gelehrten Protagonisten die Nichtigkeit der menschlichen Welt angesichts der Größe, Indifferenz und Kälte des Kosmos vorführen, die Abgründe von Raum und Zeit, in denen die menschliche Welt nur eine vorübergehende Erscheinung ist, ohne Bedeutung im All, und die geradezu verzweifelt bemüht sind, anderen diese Erkenntnis zu vermitteln.

Auf diese recht abstrakte Sinngebung führt Lovecraft durch sorgfältig aufbereitete dokumentarische und pseudodokumentarische Evidenz hin: Zeitungsausschnitte, existierende und erfundene Bücher, Zeugenaussagen, Expeditionsberichte, wissenschaftliche Protokolle, Chroniken des Verfalls, der Dekadenz, der Devolution, des Ekelhaften, beschrieben in wissenschaftlicher Pedanterie, skrupulös im Grauenhaften, ein Amalgam aus Archaischem und Modernem, des örtlich und zeitlich exakt Lokalisierbaren mit dem Zeitlosen. Zentral für Lovecrafts Auffassung ist eine Stelle am Beginn von ‚Cthulhus Ruf’, wo er es als größte Gnade bezeichnet, daß der menschliche Geist nicht imstande ist, alle Ereignisse der Welt miteinander in Verbindung zu setzen.

„Wir leben auf einem friedlichen Eiland des Unwissens inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es ist uns nicht bestimmt, diese weit zu bereisen. Die Wissenschaften – deren jede in eine eigene Richtung zielt – haben uns bis jetzt wenig gekümmert; aber eines Tages wird das Zusammenfügen der einzelnen Erkenntnisse so erschreckende Aspekte der Wirklichkeit eröffnen, daß wir durch diese Enthüllung entweder dem Wahnsinn verfallen oder aus dem tödlichen Licht in den Frieden und die Sicherheit eines neuen, dunklen Zeitalters fliehen werden.“

Rhetorik des Grauens

Diese zutiefst pessimistische Einschätzung von Wissen ist empirisch zwar kaum haltbar, aber sie liefert eine Rhetorik des Grauens, die in Lovecrafts Geschichten, hinter all der oft lächerlichen Oberfläche, dem Element des Spielerischen und Verspielten, die Macht eines modernen Mythos von nicht nachlassender Anziehungskraft gewinnt, wie Lovecrafts unzählige Auflagen ebenso belegen wie die zahlreichen Interpretationen, die sein Werk hervorgerufen hat. Franz Rottensteiner, österreichischer Publizist und Kritiker auf dem Gebiet der Science-Fiction und der Phantastik.

Lovecrafts Erzählungen liegen fast komplett als Suhrkamp Taschenbücher vor. Die wichtigsten sind Cthulhu, Berge des Wahnsinns, Der Flüsterer im Dunkeln, Schatten über Innsmouth und Der Fall Charles Dexter Ward. Eine von dem protestantischen Theologen Dr. Marco Frenschkowski, dem profiliertesten deutschen Lovecraft-Kenner, kommentierte limitierte Gesamtausgabe der Erzählungen ist bei der Edition Fantasia in Erscheinung begriffen (bisher zwei Bände).
Bei Suhrkamp gibt es auch zwei Bände mit Sekundärmaterial: Der Einsiedler von Providence. Lovecrafts ungewöhnliches Leben (st 1626, 1992) und H.P. Lovecrafts kosmisches Grauen (st 2733, 1997), beide herausgegeben von Franz Rottensteiner. Drei empfehlenswerte andere Sekundärliteraturveröffentlichungen sind das erwähnte Buch von Timo Airaksinen, The Philosophy of H.P. Lovecraft. The Route to Horror (New York etc.: Peter Lang 1999, New Studies in Aesthetics vol. 29), der Sammelband H.P. Lovecraft. Von Monstren und Mythen (Bad Tölz: Verlag Thomas Tilsner 1997), herausgegeben von Andreas Kasprzak, und Susanne Smudas Lovecrafts Mythologie. „Bricolage“ und Intertextualität (Bielefeld: Aithesis Verlag 1997).

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